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AutorenbildMarcel "Otto" Yon

Tod im Prozess-Labyrinth

Die Verwaltung hat sich in Prozessketten gelegt. Aus der guten Idee Arbeitsteilung ist eine Hydra entstanden, die vor lauter Köpfen die Orientierung verloren hat. Zu viele Prozessschritte, zu wenig Mehrwert. Unendlich viele Zuständige, aber keine Verantwortung.


Die Bundeswehr ging einst mutig voran. Mit dem Cyber Innovation Hub wurde 2016 eine Digitaleinheit geschaffen mit dem Ziel, genauso schnell und effektiv zu innovieren wie die besten Start-ups. Die Einheit sollte innerhalb geltenden Rechts alle Freiheiten erhalten, außerhalb der starren Verwaltungsprozesse zu arbeiten. Am Ende zählten wir in der Maßeinheit „Schreibtische“: Bis zu 100 Schreibtische mussten überquert werden, allein um ein Projekt starten zu können. Die Heranziehung von beorderten Reservedienstleistenden, also das einvernehmliche „Aktivieren“ der Reserve, erfordert jedes Mal die Überwindung von 20 bis 50 Schreibtischen.

Dienstreiseanträge werden in der Bundeswehr von Vorgesetzten gebilligt, von Beauftragten für den Haushalt finanziell freigegeben und von der Leitung angeordnet. Nutzt man einen Dienstwagen, kommen zwei Schreibtische hinzu. Der Fahrauftrag ist dabei noch nicht mitgezählt.

Da nützt auch die Digitalisierung nichts. Wer schlechte Prozesse digitalisiert, erhält schlechte digitale Prozesse. Und wer gar glaubt, dies sei ein Bundeswehr-eigenes Phänomen, täuscht sich gewaltig. Verwaltung folgt überall der gleichen Ratio – und genau hier liegt das Problem.


Kompakt

  • Die Verwaltung erstickt an ihren Prozessen. Weder Gesetze noch Mitarbeitende sind das Problem. Allein das Verständnis, wie Strukturen, Abläufe und Zusammenarbeit sinnvoll gestaltet werden können, ist veraltet.

  • Verwaltung funktioniert in einer Logik der funktionalen Arbeitsteilung in Prozessketten, Dienstwegen und Zuständigkeiten. In der analogen Welt war dies hilfreich, um vorhandenes Können anzuwenden. In der VUKA-Welt zählen Anpassungsfähigkeit und Resilienz angesichts von Widersprüchen.

  • Agile Kultur bietet einen neuen Ordnungsrahmen: Strukturen dienen primär einer Mission, nicht einer funktionalen Expertise; Ergebnisverantwortung und Befähigung stechen Zuständigkeit und Kontrolle; Zusammenarbeit ist darauf ausgerichtet, als Organisation zu lernen, nicht nur Wissen abzurufen.

  • Behördenleitungen, Fachaufsichten und Rechnungshöfe werden sich mit dem neuen Paradigma auseinandersetzen müssen. Denn der tradierte Modus Operandi ist immer seltener zweckmäßig und wirtschaftlich, und damit auch nicht mehr rechtmäßig.


Organisatorische Ursachen?

 

Beschäftigte des öffentlichen Sektors tendieren dazu, die Ursache für komplexe Prozesse in Gesetzen zu verorten. Prozesse gelten als Notwendigkeit für rechtskonformes Handeln. Auch wird oft argumentiert, Prozesse seien alternativlos, um nicht im Chaos zu versinken.

Die Öffentlichkeit vermutet die Ursache für die Trägheit der Verwaltung gerne in der Beamtenmentalität. Dabei wird jedoch das Korsett übersehen, in dem das Verwaltungshandeln steckt.

Doch was wäre, wenn es weder an den Gesetzen noch an den Menschen liegt? Was, wenn die innere Logik des Modus Operandi veraltet ist? Was, wenn es bessere Alternativen gibt zu der Art und Weise, wie sich der Staat organisiert und führt?


Zuständigkeit ist teilbar, Verantwortung nicht

 

Die traditionelle Aufbauorganisation gliedert sich nach funktionaler Expertise. Das schafft Klarheit, wo welches Wissen abgerufen werden kann. Bei übergreifenden Entscheidungen muss die Expertise unterschiedlicher Disziplinen zusammengeführt werden. Dies erfolgt in Prozessen und Dienstwegen. Die tayloristische Arbeitsteilung ist eine kluge Form des Wissensmanagements und ein effektiver Weg, Arbeit zu steuern – in einer analogen Welt.

Mit dieser funktionalen Arbeitsteilung verbunden ist das Konzept der Zuständigkeit. Je eine Stelle ist zuständig für eine Fachdisziplin. Zuständigkeit verleiht Autorität. Aber mit Zuständigkeit allein entsteht noch nichts Neues. Das würde Verantwortungsübernahme voraussetzen. Führungskräften im öffentlichen Sektor wird aber keine Verantwortung verliehen, denn es bleiben die vielen Zuständigen. Wie sollen Führungskräfte innovieren, wenn ihnen weder eine echte Verantwortung über Budgets noch über Personal zugesprochen wird?

Innovation stellt infrage, was in der Vergangenheit gut war. Daher ist Innovation stets mit Konflikten verbunden. Nicht Expertise, sondern Motivation – und damit verbunden Durchhaltefähigkeit, Resilienz, Kreativität – ist der treibende Erfolgsfaktor für Veränderung. Menschen werden durch Zuständigkeiten beschnitten, aber sie wachsen mit Motivation und Verantwortung.

Zuständigkeit in der Logik des öffentlichen Sektors ist exklusiv. Es geht nicht bloß um das Einbringen von geschätzter Fachexpertise, sondern um die Erlaubnis, tätig werden zu können. In der sequenziellen Prozesskette erfahren die Initiierenden teilweise erst ex post von Eingriffen der Zuständigen. Die gelebte Logik der Zuständigkeit – ein Veto-Recht ohne Ergebnisverantwortung – bietet somit Raum für eine interessante Form der Machtausübung.


Sollbruchstellen des Prozessmanagements

 

Die Verwaltung hat sich in einem feinmaschigen Netz von Prozessen, Dienstwegen und funktional zuständigen Stellen organisiert. Veränderung bedeutet, viele Personen überzeugen zu müssen. Jede davon ist im besten Fall eine Person mit einem vollen Terminkalender und anderen Prioritäten und im schlechtesten Fall eine Person mit anderen Interessen.

Zuständige dienen nicht einer Mission, sondern den Überzeugungen ihrer Zunft. Die mächtigen Zuständigkeitsbereiche am Ende der Prozesskette, wie Recht und Haushalt, setzen sich überproportional durch. Der Interessenausgleich findet unter dem Primat der funktionalen Expertisen zulasten des Auftrags statt. In einer Kette von fachlichen Veto-Rechten entstehen kleinste gemeinsame Nenner, keine Moonshots.

Fällt das Stichwort Interessenkonflikt, wird eine Compliance-Stelle in den Prozess einbezogen. Das wäre alternativlos, wenn die Entscheidenden einem Interessenkonflikt unterlägen. Unterschiedliche Interessen von Vertragsparteien stellen jedoch keinen Interessenkonflikt dar. Die Auslagerung der Prüfung an eine Compliance-Stelle ist also nicht ein Instrument zur Prävention von Interessenkollisionen, sondern zur Qualitätskontrolle der eigenen Beschäftigten. Offenbar traut man den Entscheidenden nicht zu, die Interessen des Ministeriums zu vertreten. Dabei sind Freigabeprozesse nur Feigenblätter der Qualitätssicherung. Entmündigung reduziert Qualität. Sicher ist nur, dass die Transaktionskosten steigen.

 

Das Recht ist nicht das Problem


Viele Prozessschritte werden mit gesetzlichen Vorgaben begründet. Dabei wird regelmäßig förmliches Recht mit internen Vorschriften verwechselt. Interne Vorschriften beschreiben am Ende nur die Art und Weise, wie sich Verwaltung organisiert. Vorschriften sind geprägt durch das tradierte Verständnis von zweckmäßigen Strukturen und Abläufen.

Beispielsweise wird EU-Vergaberecht gerne als Begründung zitiert, weshalb Beschaffungen Monate oder Jahre dauern. Davon beträgt die Ausschreibungsfrist in der Regel nur 30 Tage. Jeder weitere Tag reflektiert die Art und Weise, wie Zusammenarbeit – ja, in einer komplexen Welt – organisiert wird.

Das aus der Bundeshaushaltsordnung abgeleitete Gebot der Wirtschaftlichkeit lastet wie ein Damoklesschwert auf allen Prozessen. Auch hier gilt: Nicht der Wille des Gesetzgebers ist das Problem, sondern veraltete Überzeugungen zu Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit. Realitätsfremde Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen, antiquierte Konzepte von starren Dienstpostenstrukturen, blinde Angst vor sogenannten Dopplungen und eine chronische Überbewertung des Konsensprinzips zulasten der Effektivität prägen den Verwaltungsalltag. Vor allem aber werden die Transaktionskosten von Prozessen ignoriert. EDA-Kosten (das Personal ist „eh da“) bleiben unberücksichtigt. Im Cyber Innovation Hub führte dies – unter Berücksichtigung der EDA-Kosten – dazu, dass die oktroyierten Prozesse zur Risikovermeidung teurer waren als das maximale Risiko.

Das Verwaltungshandeln benötigt deshalb einen neuen Ordnungsrahmen, der sich über die drei Dimensionen Aufbauorganisation, Ablauforganisation und Zusammenarbeit erstreckt.


Von der Zuständigkeitskultur zur Verantwortungskultur

 

Organisationen sind agil, wenn sie unter VUKA-Bedingungen (Volatilität, Unsicherheit, Komplexität, Ambiguität) über eine hohe Anpassungsfähigkeit verfügen. Agilität wird erreicht, wenn sich jede Einheit primär über ihre Mission definiert, nicht über eine Expertise oder Zuständigkeit. Einheiten müssen die Verantwortung über ihre gesamte Wertschöpfungskette ausüben können, ohne Abhängigkeit von Zuständigen. Die Teams sind cross-funktional aufzustellen, sodass sie über die erforderliche Fachkompetenz verfügen. Expertise wird in den Dienst des Auftrags gestellt, nicht umgekehrt.

 

Von der Erlaubniskultur zur Befähigungskultur

 

Die Missions-basierte Organisation wird weniger über Richtlinien und Prozesse geführt als über Ziele. Nicht die Stoppuhr, sondern der Kompass sollte das zentrale Führungsinstrument sein. Das Selbstverständnis der Ministerien muss sich vom Regulator zum Investor weiterentwickeln. Dann werden Ressourcen in Teams investiert, um Ziele zu erreichen.

Synergieeffekte zwischen Einheiten werden nicht durch Prozessvorgaben und Dienstwege, sondern durch Transparenz, Marktplätze und Netzwerke erreicht. Diese befähigen Führungskräfte dann, die vorhandenen Ressourcen der Organisation optimal zu nutzen.

 

Von der Wissenskultur zur Lernkultur


Die VUKA-Welt fordert von uns nicht weniger, sondern mehr Fachexpertise. Doch dies wird nicht durch sequenzielle Mitzeichnungsprozesse erreicht, sondern durch zeitgemäße Ansätze wie Design Thinking. Die Relevanz für Nutzende wird mithilfe von User Experience Design effektiver erarbeitet als durch definierte Vorgaben, die auf der Meinung einer zuständigen Person im Ministerium basieren. In der Vergangenheit war entscheidend, Wissen über Prozesse abzurufen. In der VUKA-Welt ist entscheidend, durch gute Zusammenarbeit zu lernen.


Resilient in die Zukunft

 

Auch in der funktionalen Prozessorganisation ist Innovation möglich. Veränderung kostet aber viel Kraft und hierarchische Macht für wenig Fortschritt. Verwaltung wurde für Status quo konzipiert, nicht für Veränderung. Doch nominaler Status quo bedeutet realen Rückschritt.

Verwaltung ist nicht so besonders, wie sie denkt. Die Privatwirtschaft hat die gleichen Herausforderungen. Agile Kultur ist nicht entstanden, um höhere Risiken eingehen zu können, sondern um Risiken zu reduzieren. In der analogen Welt hat man Zusammenarbeit mittels funktionaler Organisationsstrukturen und Prozessmanagement organisiert. In der VUKA-Welt ist agile Kultur das herrschende Paradigma.

Wer die Ursache für die surreale Welt der Verwaltung bei falschen Gesetzen oder unfähigen bis unwilligen Beschäftigten vermutet, macht es sich zu leicht. Die Funktionsweise der Verwaltung begünstigt diese Auswüchse. Vor allem aber erschwert das Primat der verteilten Zuständigkeit eine Veränderung. Wenn eine Organisationslogik sich derart abhängig macht von einer kleinen Lähmschicht, dann sind nicht die Menschen schuld, sondern die Organisationslogik ist nicht resilient gegen Unvollkommenheit.



Autor: Marcel "Otto" Yon

ist Vorstand von Staat-up e. V., dem Netzwerk für Beschäftigte des öffentlichen Sektors, die die Ver- waltung von innen modernisieren. Der dreifache Start-up-Unternehmer und KI-Pionier war von 2016 bis 2019 im BMVg tätig und baute dort den Cyber Innovation Hub auf. Yon unterstützt Unternehmen und Behörden im Sicherheits- und Verteidigungsumfeld, agile Strukturen zu implementieren, die Chancen der Transformation zu ergreifen und durch Innovation zu führen.

marcel.yon@staat-up.net

Bild: Foto von Dan Asaki auf Unsplash

Der Artikel wurde erstmals veröffentlicht in Innovative Verwaltung 1-2/2023



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